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WS 13/14 DOKUMENTE UND INSZENIERUNGEN/TÄTER UND OPFER

DOKUMENTE UND INSZENIERUNGEN/TÄTER UND OPFER: Drei Filme

ANNA (D: Alberto Grifi, Massimo Sarchielli) Italien 1972-75; 210 min.

WUNDKANAL (D: Thomas Harlan) Deutschland/Frankreich 1984; 112 min.

NOTRE NAZI (D: Robert Kramer) Frankreich/Deutschland 1984; 116 min.

Im Zentrum des Wintersemesters 2013/14 stehen zwei Filme, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten: Der italienische Film ANNA von Alberto Grifi und Massimo Sarchielli aus den Jahren 1972 – 1975; sowie der deutsch-französische Film WUNDKANAL des Regisseurs Thomas Harlan aus dem Jahr 1984 (supplementiert von einer Making-Of-Dokumentation der Dreharbeiten zu WUNDKANAL mit dem Titel NOTRE NAZI des amerikanischen Dokumentarfilmemachers Robert Kramer). 

Während ANNA in erster Linie ein mit inszenierten Einschüben durchsetzter, dennoch dem cinéma verité verpflichteter Dokumentarfilm über ein obdachloses, schwangeres junges Mädchen mit einem Drogenproblem ist, inszeniert WUNDKANAL die Geschichte eines alten Nazis namens Albert Filbert,  der zu den Toten von Stammheim und zu seiner Verantwortung verhört wird, und thematisiert so gleichzeitig das Verhältnis zwischen deutschen Generationen: jener, die vom Nationalsozialismus und vom 2. Weltkrieg geprägt war, und der darauf folgenden, die im Widerstand gegen das nationalsozialistischen Erbe den bewaffneten Kampf wählte und in den Untergrund ging, um der Gewalttätigkeit der Geschichte terroristische Gewalt entgegen zu setzen: die Rote Armee Fraktion.

Der Regisseur Alberto Grifi war ein italienischer Experimentalfilmer, der – neben seinem Hauptwerk ANNA –  mit Filmen wie La Verifica Incerta, L’occhio è per così dire l’evoluzione biologica di una lagrima/Autoritratto Auschwitz (1965-68/2007) und anderen essayistischen Dokumenten seinen internationalen Ruf als politisch engagierter Filmemacher begründet hat; während unter den Deutschen dieser Generation (geboren Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre) wohl niemand anderer geeigneter gewesen ist, das von Schweigen, Verdrängung und Hass geprägte Generationsverhältnis der Nachkriegszeit zu thematisieren: Thomas Harlan, selbst Kind des von den Nazis hochgeschätzten Regisseurs Veit Harlan, dessen berüchtigtster Film wohl die von den Nationalsozialisten gefeierte Propagandaproduktion Jud Süss (19XX) war. Vor diesem Hintergrund ist WUNDKANAL nicht zuletzt als Abrechnung Thomas Harlans mit seinem Vater zu verstehen, mit dem ihn zeitlebens eine unauflösliche Hassliebe verbunden hat.

Was diese beiden zeitgeschichtlich, stilistisch und auch politisch so unterschiedlichen Filme dennoch miteinander verbindet, ist das zentrale Thema der Frage nach dem Wesen des Dokumentarischen schlechthin. Auf welche Weise nähert man sich seinem Gegenstand? Wie kann die Wirklichkeit dokumentiert werden; und verwandelt sie sich im Akt des Dokumentierens nicht wieder in Fiktion? Ist die Fiktion am Ende, mit Jean Rouch gedacht, der Realität näher als der ungebrochene, scheinbar bloß dokumentieren-wollende Gestus des cinéma vèrité? Insofern als beide Filme auf unterschiedliche Weisen das Terrain zwischen dokumentarischer Wirklichkeit und filmischer Inszenierung ausloten, erschaffen sie auf jeweils eigene Weise inszenierte Realität, beziehungsweise eine Inszenierung, deren Herstellung anschaulich wird, und innerhalb deren Struktur die Ab-Bilder eines jungen Mädchens und eines alten Mannes prismatisch gebrochen und so übermäßig geschärft erscheinen.

Auch an Radikalität im Zugang zu ihrem Gegenstand sind beide Werke kaum zu überbieten – schonungslos und brutal setzen die Regisseure ihre gewählten Subjekte dem Kamerablick und ihrer Inszenierung aus. So stellt sich in beiden Fällen nicht zuletzt die Frage nach der (moralischen) Verantwortung des Regisseurs gegenüber seinem Gegenstand (und dies ungeachtet des Gegenstands selbst), sowie danach, inwieweit das dokumentarische Subjekt auch immer ausbeuterischen Logikern unterworfen ist, wenn er ins Bild gesetzt wird. Beide Filme handeln von Verhältnissen zwischen Tätern und Opfern: in ANNA wird ein junges Mädchen, selbst bereits Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse, von den beiden Regisseuren Grifi und Sarchielli unter dem Deckmantel sozialer Wohltätigkeit ein zweites Mal viktimisiert (obwohl Anna sich gegen diese Viktimisierung auf ihre eigene Art wehrt); in WUNDKANAL wird ein Täter (ein hoher Nazioffizier, verantwortlich für Deportationen und Massenmorde) nun selbst zur Laborratte seines Regisseurs – dies wird besonders in dem schaurigen Satz deutlich, denn Albert Filbert in Robert Kramers Dokumentation NOTRE NAZI äußert: “Ich habe dem Herrn Harlan gehorcht, wie ich Heydrich gehorcht habe.” In WUNDKANAL nähern sich die Rollen von Täter und Opfer bisweilen auf unheimliche Weise an – dies wird in Robert Kramers Making-Of NOTRE NAZI auf anschauliche Weise deutlich:

“In dem Moment, in dem er von der Kamera befragt wird, siehst du, dass allein die Macht, jemanden befragen zu können und eventuell in der Folge umzubringen, so befriedigend ist, dass er sogar dann mitmacht, wenn es gegen ihn geht.” sagt Thomas Harlan über Alfred Filbert, “seinen” Nazi. „Der schreckliche Satz, den er einer französischen Zeitung gesagt hat – ‘Ich habe dem Herrn Harlan gehorcht, wie ich Heydrich gehorcht habe’ –, der heißt ja praktisch, wir haben uns einen Mörder hergerichtet. Ich kann also durch das Filmemachen mit ihm beweisen, zu was ich ihn bringe. Ich brauchte gar nicht Hitler zu sein oder Heydrich. Ganz wenig hat genügt, ganz wenig Druck und eine ganze Menge Verführung, und ich glaube, dass der Nazi-Staat so etwas Ähnliches war in seinen Angeboten, wie die Torte zu seinem Geburtstag. Die Aufmerksamkeit, die Wichtigkeit, die man ihm gab. Der Film Wundkanal ist ein Gewaltakt, das ist wichtig. Notre Nazi hält das fest. Er verrät mich. Er wird gemacht, um mich zu verraten. (…) Der Film zeigt vor allem, wie neue Schuld entsteht in einem Film über die alte. Wer diesen Versuch unternimmt, den ich unternommen habe, der verliert sein Gesicht. (…) Ich habe das Gesicht des Feindes angenommen. Wenn Sie die Mittel des Feindes benutzen, um dem Feind auf den Leib zu rücken, dann ähneln Sie Ihrem Feind um so mehr, als Sie ihm nahe kommen. Sie werden Ihr eigener Feind.”

Simon Rothöhler schreibt in seinem Text mit dem Titel “Opa war ein Nazi” (Cargo, Februar 2009):

“Wundkanal gehört zu jenen Filmen, die bei ihrem Eintritt in die Öffentlichkeit des Kinos intensiv und kontrovers diskutiert werden, dann aber untertauchen und hinter ihrer eigenen Rezeptionsgeschichte gleichsam in die Unsichtbarkeit zurücksinken. In die Filmhistorie gehen sie ein als Gerücht, das immer mal wieder von jemandem weiterkolportiert wird. Ursächlich dafür ist im vorliegenden Fall ein Skandalon: ein hochrangiger Nazi – Alfred Filbert, zeitweilig stellvertretender Chef des Geheimdienstes der SS im Amt VI des Reichssicherheitshauptamtes, 1962 wegen gemeinschaftlichen Mordes in 6 800 Fällen zu lebenslänglicher Haft verurteilt, 1975 aus «medizinischen Gründen» vorzeitig entlassen – ‘spielt sich selbst’ in einem fiktionalen Film, der sich in spekulativer Weise mit den Toten von Stammheim und der Kontinuität des Nazi-Faschismus in der BRD beschäftigt.” Komplizierte und komplexe Verflechtungen und Verwerfungen von Sujet und Inszenierung, Ausbeutung und Widerstand werden innerhalb der Verhältnisse der Regisseure zu ihren Darstellern aufs genaueste anschaulich.

Über ANNA

ANNA von Alberto Grifi und Massimo Sarchielli, der zwischen 1972 und 1975 in Rom entstanden ist, erlebte seine Uraufführung am 6. Juli 1975 im Rahmen der Berlinale – Sektion Internationales Forum des Jungen Films. Ursprünglich ein zentrales Werk der (Post)-68-Bewegung in Italien[1], geriet er einige Jahre in Vergessenheit und wurde erstmals wieder auf dem Filmfestival von Locarno im Jahr 2002 vorgeführt. Nach seiner Restaurierung durch die CSC Cineteca Nazionale und die Cineteca di Bologna erlebte ANNA eine Renaissance: der Film lief in der Sektion Orizzonti 1961-1978, der Retrospektive der 68. Filmfestspielen von Venedig, die sich dem italienischen Experimentalkino der Sechziger und Siebziger Jahre widmete; im Anschluss wurde er auf dem Filmfestival Rotterdam 2012 und in der Londoner Tate Gallery gezeigt, und im Jahr 2012 im Rahmen einer Werkschau der Viennale zu Alberto Grifi. In einem Text, der anlässlich der Premiere des Films im Forum der Berlinale erschienen ist, steht einleitend Folgendes nachzulesen:

„ANNA ist ein Video-Band, das 1972 – 73 mit einer AKAI – Apparatur im Viertelzollformat aufgenommen wurde und das Alberto Grifi 1975 mit einem Apparat seiner Erfindung, dem Vidigrafo, auf 16 mm-Film übertrug. ANNA existiert in drei Versionen: einer langen (11 Stunden) auf 1/4-Zoll Videoband und einer kürzeren (4 1/2 Stunden) auf 1/2 Zoll-Videoband. Die dritte Version ist die 16 mm-Filmversion (3 1/2 Stunden). Der Film entstand in Zusammenarbeit von Alberto Grifi mit Massimo Sarchielli, einem Schauspieler, der eine wichtige Rolle als Vermittler zwischen der Kamera und der ,Heldin‘ spielt. Er zeigt die reale Situation Annas, eines 16 Jahre alten drogenabhängigen Mädchens, das schwanger ist, Massimo Sarchielli auf der Piazza Navona kennenlernt und von ihm zu Hause aufgenommen wird. Zur gleichen Zeit filmten die Regisseure das, was sich in Rom im Milieu der Randgruppen ereignete.“

Adriano Aprà, L’Art Vivant, Paris, Februar 1975

Zur Entstehungsgeschichte des Films sagt der Regisseur Alberto Grifi,

Grifi: 1972, im Januar, glaube ich, trafen Massimo Sarchielli und Roland Knauss Anna auf der Piazza Navona. Sie war minderjährig und schwanger. Sie war gerade eben aus der letzten einer unendlichen Kette französischer Erziehungsanstalten fortgelaufen, denen ihre Eltern, aus Sardinien nach Frankreich emigriert, sie ‘anvertraut’ hatten; sie kam nach Rom und schlief dort auf Treppenstufen. Massimo und Roland fanden, dass es sich um einen ‘menschlichen Fall’ handele, nahmen sie in ihrer Wohnung auf und schrieben, während sie sie beobachteten, eine enorme Menge von Notizen, die etwa auf der Mitte zwischen einem Filmdreh- buch und dem Projekt eines philanthropischen Unternehmens standen. Dann riefen sie mich an, um den Film zu drehen. Wir fingen an, auf 16 mm mit einer Arriflex und einem Nagra zu drehen. Im Verlauf der Dreharbeiten, die sich etwa drei Monate lang hinzogen, bewegten sich viele Personen im Umkreis um das Mädchen, als ob sie eine Art Katalysator oder eine Art soziologischer Test gewesen wäre. ‘Test’ sage ich, weil Annas psychisches Befinden zwischen Depression und Katatonie schwankte. Sie sprach fast überhaupt nicht; sie bat uns nur dauernd um Zigaretten oder fluchte und beleidigte uns. Das machte die Leute verrückt. Sie fühlten sich angegriffen, entschuldigten sich, liebten sie, stahlen die Aussteuer für das Baby in Kaufhäusern, betranken sich, legten Geständnisse ab usw.“

ANNA als ein Dokument des vielfachen Übergangs ist nicht nur eine Dokumentation des Nachhalls der politischen Bewegungen von 1968, der gesellschaftlichen Transformationen und Verwerfungen im Italien der 70er Jahre, sondern auch eine Aufzeichnung der Veränderung der Verhältnisse am Set: die klassischen Hierarchien lösen sich auf, und Anna selbst als Darstellerin, die keine sein wollte, „war zum Glück ganz anders, als wir sie haben wollten“ (Alberto Grifi). Die Frage danach, wie bzw. wodurch sich dieser Prozess vollzogen habe, wie „die Machtstrukturen verändert werden konnten“, beantwortet Grifi so: 

„Und dann die Geschichte mit Vincenzo. Er war der Elektriker
des Films. Eines Tages schaltete er die Scheinwerfer an, trat vor die Kamera und erklärte Anna seine Liebe, vermischt mit einem Bericht über Arbeitskämpfe. Vincenzo ‘verließ seinen Arbeitsplatz’, um vor die Kamera zu treten und etwas zu erzählen, so
wie er auch seinen Arbeitsplatz bei Pirelli verlassen hatte. (…) Ebenso wie er sich der Arbeitszeitenregelung und anderen Druckmitteln verweigerte, die man bei Pirelli für die Arbeiter bereithält, wie er sich der Ausbeutung entzog, so weigerte er sich auch, die Verbannung aus der Szene zu akzeptieren, die im Film für die gesamte Belegschaft gilt. Das Kino von Cinecittà braucht hochqualifizierte Arbeiter, aber sie werden mittelmäßig durch die Langeweile, sie haben keine Leidenschaft, sind nicht schöpferisch … Auch die Herolde des italienischen Kinos brauchen solche Arbeiter … Sie bedanken sich zuerst bei den Mitarbeitern des Produzenten und grinsen dann mit dem Oskar in der Hand … Sie brauchen eine solche Belegschaft, die alles ausführt, ohne zu kritisieren, weil die Ideologie ihrer Werke von der der Wirtschaft abgeleitet ist: die Ideologie des Konsums. Es stimmt, dass viele Regisseure Werbefilme gedreht haben, auch Massimo und ich, aber am gefährlichsten sind die, die vorgeben, engagiert zu sein. Sie drehen den Satz um: die Ideologie des Konsums wird zum Konsum der Ideologie.”
So, wie Anna sich weigert, „Figur“ des Films zu sein, so wird im Gegenzug der Beleuchter Vincenzo zum Subjekt, indem er aus dem Off-Space vor die Kamera tritt (und so die Szene ganz neu beleuchtet):

 Vincenzo:  Ich wollte ihr vorher was sagen.  Weißt du, als wir vorhin rübergingen, die Sachen von dem Kind anschauen. Du hast mich an viele Sachen, besonders vom Sommer, erinnert. Da war ein anderes Mädchen wie du. Wir waren alle zusammen. Auch der, der jetzt filmt. In Kalabrien. Ich wollte insbesondere mit ihr sprechen, das heißt, die Sorge wegen dem Kind, auf das wir alle warteten, das Mädchen hieß Elisabetta. Nicht nur sie erwartete es, wir alle erwarteten das Kind. Es war sehr schön, das mitzuerleben. Sie wollte, dass wir alle dabei sind. Wir am Meer, als sie die Wehen bekam, sie rief nach den Fischern, die dort draußen waren – sie kamen und holten sie mit dem Boot ab, dann sind wir alle ins  Krankenhaus gefahren und dort ist das Kind geboren worden. Ich möchte nicht viel sagen… Mit anderen Worten, wir nehmen Teil an deiner Freude… 

Dieses Liebesgeständnis bringt das Verhältnis von filmischer Fiktion und Wirklichkeit vollends aus dem Gleichgewicht, eben so, wie Liebesverhältnisse immer die Bruchlinien zwischen Vorstellung, Begehren. und Wirklichkeit sichtbar machen.

Der Film  ANNA existiert, wie schon erwähnt, in mehreren und in ihrer Länge sehr unterschiedlichen Fassungen: in einer langen Fassung von 11 Stunden auf 1/4-Zoll Videoband, eine kürzeren von 4 1/2 Stunden auf 1/2 Zoll-Videoband, und in einer dritten Version als 16 mm-Filmversion von 3 1/2 Stunden. Die technologische Transformation, die ANNA ankündigte, nämlich der Übergang von Film zu Video, ist der Produktion als erstes Video, das in Italien gedreht wurde, selbst eingeschrieben. Auf der Ebene des einzelnen Kaders wird eine spezifische Aufzeichungs- (und somit auch Distributionsgeschichte) insofern sichtbar, als sich in der Berliner 16 mm-Kopie nicht bloß die üblichen Laufspuren häufig vorgeführter Filmkopien zeigen, sondern ebenso typische Video-Lowband-Bildstörungen („Drops“, „Drop-Outs“ – übrigens eine interessante Analogie zu den Protagonist_innen des Films: Hippies, „Drop-Outs“), die im Prozess der Rückübertragung des Videobandes auf 16 mm Film (mit Hilfe eines „Vidigrafo“, einer Vorrichtung, die Alberto Grifi selbst entwickelt hatte) mit festgehalten wurden. Der Film dokumentiert so seine eigenen Entstehungsgeschichte auf technischer, ästhetischer, ideologischer und ökonomischer Ebene. Im Hinblick auf die Aufzeichnungsgeschichte von ANNA erscheint es wichtig,  dass Alberto Grifi selbst die Wahl eines Videorecorders statt der Arriflex und des Nagras als außerordentlich bedeutsam hervorhebt:


Frage: Warum habt ihr den Videorecorder anstelle der Filmkamera benutzt?

Grifi: Die Wahl eines Videorecorders anstelle der Arriflex und des Nagras war von außerordentlicher Bedeutung. Ich würde sagen, sie war ausschlaggebend. Aber das haben wir erst viel später bemerkt. Auch das steht im Pesaro-Heft. Als wir uns entschlossen, das zu drehen, was passierte, während es passierte, ohne Drehbuch, immer zur Aufnahme mit der Arriflex bereit, ertappte ich mich bei folgender Überlegung: je länger ich den Knopf drücke, umso mehr Film läuft durch, umso mehr Geld verbrauche ich. Filmmaterial ist teuer, nicht wahr? Das ist kein Geheimnis, also war es logisch, diese Überlegung anzustellen. Alles war improvisiert, also liefen wir Gefahr, alles wegwerfen zu müssen, wenn die Ereignisse, die wir filmten, nicht ‘interessant’ genug waren.

Aber siehst du, NACHDEM ICH DIE KOSTEN DER ZEIT UND DES FILMMATERIALS BERECHNET HATTE, FING ICH AUCH AN, DIE ZEIT UND DIE KOSTEN DERMENSCHLICHEN BEZIEHUNGEN ZU KALKULIEREN, DIE ICH DREHTE. Vermittels der Autorität, die uns die Regie gab, versuchte ich unbewusst, die Entwicklung einer zwischenmenschlichen Beziehung vorauszusehen, anzuregen, zu bestimmen oder zu bremsen, die sich spontan in der Gruppe entwickelte, und zwar in Abhängigkeit von der Quantität des Filmmaterials, das uns zur Verfügung stand. Als Regisseur VERWALTETE ICH DIE AUTHENTISCHEN, SPONTANEN MENSCHLICHEN BEZIEHUNGEN und brachte sie in die Form einer DARSTELLENDEN FIKTION, AUSGERICHTET NACH DEN REGELN DER ÖKONOMIE! (…) Mit dem Videorecorder wurden alle Erwägungen wirtschaftlicher Art hinfällig (wenn dir die Aufnahme nicht gefällt, kannst du sie wieder löschen, es gibt keine Tontechniker mehr, keinen Kameraassistenten usw.); wir drehten STÄNDIG. Und wir stellten fest, dass die ‘besonders bedeutenden’ Momente nur die Bedeutungen der herrschenden Ideologie sind: Stereotypen. Das ‘Banale’, das wir beim Drehen zunächst zurückwiesen, ist das, was das Kapital zensuriert, denn jenes Banale ist ganz einfach die Realität: das, was im Gegensatz zur Darstellung authentisch ist.

Während aus zeitgenössischer Sicht ein gewisses essentialistisches Beharren auf einem durch das filmische Verfahren mitproduzierten Authentizitätsbegriff kritisch betrachtet werden muss, erscheinen Grifis Überlegungen doch sowohl aus medienhistorischen wie auch filmästhetischen Perspektiven von Bedeutung. Grundsätzlich zieht sich durch Grifis Aussagen und Texte die Beobachtung, dass der Einsatz von Video nicht bloß einen neuen Freiheitsgrad des Regisseurs im Umgang mit seinem Gegenstand bietet, sondern dass Videotechnologie darüber hinaus tatsächlich als transformatorisches, ideologiekritisches Werkzeug zu verstehen ist, dessen Potenzial zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse die Hierarchien des Filmsets selbst verschiebt bzw. sogar auflöst. Im Falle von ANNA ist dieser Prozess des Zerfalls der Regie-Macht also nicht in erster Linie der Überschreitung der unsichtbaren Grenze zwischen Off- und On-Space durch den Beleuchter Vincenzo zu verdanken, die aus Liebe geschieht, sondern die nötigen Bedingungen für eine solche Überschreitung werden durch den Einsatz der billigen Videotechnik bereits vorbereitet, indem „immer gedreht werden kann“. Der Auto Adriano Aprà schreibt dazu treffend:

Die verschiedenen Elemente, separate Funktionen, die im Film durch einen technischen Kunstgriff zur Einheit des Werks zusammengeführt werden, treten hier in Wechselwirkung, und das Band erzählt von nichts anderem als dieser Wechselwirkung. Das Werk identifiziert sich so mit dem Prozess seiner Entstehung, es ist ein Dokument einer lebenden und arbeitenden Gruppe, wobei Leben und Arbeit, Erfahrung und Band nur Momente eines zeitlichen Kontinuums
sind. ANNA liefert das Zeugnis einer Randgruppe aus dem Rom der Zeit nach ’68: Randgruppe in Bezug auf das Leben (Erfahrungen mit Erziehungsanstalten, Drogen, Gefängnissen) wie auf die Arbeit (Arbeitslosigkeit oder ‘Arbeit’ mit einem nichtoffiziellen Instrument wie dem Video-Band).

Dieses Leben in der Randexistenz wird auf allen seinen Ebenen untersucht, der des Verhaltens ebenso wie der der Politik. Obwohl das Band sich —entsprechend der Methode des cinéma-
vérité – streng auf das beschränkt, was im Augenblick des Geschehens gerade geschieht, erlangt es schließlich doch einen emblematischen Wert. Was reine Analyse war, wird zur Synthese.
Die improvisierten Dialoge kann man auch als die Erklärung eines Manifests verstehen. Und die Handlung, die Personen, die Orte,
die aufeinander folgen, fügen sich zu einer unabsichtlichen Struktur: einer Struktur — oder ‘Handlungslinie’ —, die aus den Dingen selbst hervorgeht, die gewollt ist, so wie man für ein bestimmtes Leben optiert, wenn man eine Wahl trifft. Die Handlungslinie geht also dem Material nicht voraus.”

Besonders deutlich lässt sich diese soziale Transformation, die an der Stelle des Übergangs von Film zu Video stattfindet, an der ambivalenten Rolle von Massimo (Sarchielli) ablesen, der gewissermaßen als Mittlerinstanz zwischen Anna, die keine Darstellerin, und Alberto Grifi, der kein Regisseur sein will, fungiert. Es ist der Schauspieler Massimo Sarchielli, der selbst wohl als (marginaler) Teil der Hippies der Piazza Navona das obdachlose Mädchen aufliest, in einem Akt von Wohltätigkeit bei sich unterbringt, und sie in einem weiteren, konträren Akt von Ausbeutung zum Gegenstand eines Films macht, dessen Wirklichkeit Massimo und Alberto aber so wenig überzeugt, dass sie diesen durch Re-Enactments fiktionalisieren wollen; die daraus entstehende Semi-Fiktionen werden, symbolisch gesprochen, jedoch von Annas Wirklichkeit bedroht. Massimo, so sagt Grifi im Interview, „geht herum und bittet um Hilfe für Anna. Zuhause behandelte er Anna wie ein Gefängniswärter und draußen auf der Piazza Navona lief er herum und bat um Hilfe für sie.“ Daraus entsteht die Frage, so Grifi, ob Massimo unter dem Vorwand, einen Film zu drehen, um Hilfe für Anna bat, oder ob nicht die Absicht, ihr zu helfen, nur ein Vorwand für den Film gewesen sein. „Das ‘philanthropische Werk’ ist gescheitert, nicht deshalb, weil wir keine Hilfe fanden, sondern deswegen, weil der Film auf der Verweigerung dieser Hilfe aufgebaut wurde. “

So also werden in dieser Veranstaltung grundsätzliche Fragen diskutiert, die von diesen Werken im Besonderen, und vom Format des Dokumentarfilms im Allgemeinen aufgeworfen werden; im Rahmen dieser Untersuchung sollen Studierende eigene filmische Reflexionen auf die vorliegenden Filme entwickeln. Die Veranstaltung wird von den Klassen Film und Fernsehen (Thomas Heise und Maren Grimm) sowie Kunst und Medien (Constanze Ruhm, Annja Krautgasser und Axel Stockburger) gemeinsam über den Zeitraum von zwei Semestern durchgeführt.   

Weiterführende Filmliste

Der schwarze Kasten, Johann Feindt & Tamara Trampe, D 1992

Wandersplitter. Eine Anti-Biographie, Christoph Hübner & Gabriele Voss, D 2006

The Act of Killing, Anonymous, Christine Cynn, Joshua Oppenheimer, Denmark/UK/Norway 2012

Der lachende Mann – Bekenntnisse eines Mörders, Walter Heynowsky & Gerhard Scheumann, DDR 1966

No quarto do Vanda, Pedro Costa, Portugal 2000

Kolberg, Veit Harlan 1945

W tumane / Im Nebel (В тумане), Sergei Loznitsa, Russland 2012

ENGLISH:

DOCUMENTS AND STAGINGS / OFFENDERS AND VICTIMS: Three Films

ANNA (D: Alberto Grifi, Massimo Sarchielli) Italien 1972-75; 210 min.

WUNDKANAL (D: Thomas Harlan) Deutschland/Frankreich 1984; 112 min.

NOTRE NAZI (D: Robert Kramer) Frankreich/Deutschland 1984; 116 min.

In the winter term 2013/14 we will engage with two films, that could not differ more first glance: The Italian film ANNA, by Alberto Grifi und Massimo Sarchielli, from the years 1972-1975; as well as the German-French production WUNDKANAL by Thomas Harlan dating from 1984 (which will be supplemented by a making-of documentary of Wundkanal, entitled NOTRE NAZI by the American documentary filmmaker Robert Kramer).

On the one hand there is ANNA, a documentary film about a young, homeless and pregnant girl,  that, although it features enacted scenes at times, belongs to the tradition of cinéma verité. On the other hand WUNDKANAL presents the Story of an aging Nazi by the name of Albert Filbert, who is interrogated concerning his responsibilities during the Nazi period, while the film also touches upon the subject of the relationship between the German generation of WWII and the resistance of the radical political left: the Red Army Faction.  

Alberto Grifi was an Italian experimental filmmaker, who, apart from his major work ANNA, gained an international reputation for his politically engaged films like  La Verifica Incerta, L’occhio è per così dire l’evoluzione biologica di una lagrima/Autoritratto Auschwitz (1965-68/2007) as well as other essayistic documentary productions. Among the German filmmakers born at the beginning of the 1030s it would be hard to find someone who would be better suited to engage with the post war generational conflict, characterised by silence, hatred and repression, than Thomas Harlan, the son of the filmmaker Veit Harlan, whose most notorious production was the propaganda film Jud Süss which was celebrated by the Nazis. Seen from this historical perspective WUNDKANAL, can also be understood as an act of reckoning between father and son, who were bound by a love/hate relationship.

What connects these two historically, stylistically as well as politically utterly different films, is their central theme: the questioning of the nature of the documentary in its own right. How can one engage with this subject? How is it possible to document reality, while it immediately seems to turn into something fictional through the very act of documenting? Is fiction, thought in the sense of Jean Rouch, maybe even nearer to reality, than the unbroken, almost naïve gesture of “just documenting”,  present in cinéma vèrité?  Through the ways that these two films chart the territory between documented reality and filmic staging, they generate, each in their own fashion, forms of staged reality which display the rules of their own production and contain the prismatically broken and yet sharpened images of an old man and a young girl.

The radicality of these works is hard to surpass, since they both subject their “actors” to a brutal and inscrupulously staged camera view. This raises questions about the (moral) responsibilities of a film director in relation to his/her chosen subject, as well as to which degree the logic of documentation itself becomes exploitative during the act of image making. Both films engage with the relations between offenders and victims: In ANNA, a young girl who is already the victim of her social environment is victimised a second time by the filmmakers Grifi and Sarchielli under the guise of charity (although she does manage to fend of these attempts in her own way). In WUNDKANAL, an offender (a high ranking Nazi officer, who is responsible for deportations and mass killings) is turned into a lab rat  by Thomas Harlan; this becomes highly evident in the sentence uttered by Albert Filbert in the documentary NOTRE NAZI: “I obeyed mister Harlan in the same way I obeyed Heydrich”.

The details of the complex intertwinings and distortions between sujet and staging, exploitation and resistance, reveal themselves in the relationships between these filmmakers and their subjects.   

List of related films:


Der schwarze Kasten, Johann Feindt & Tamara Trampe, D 1992

Wandersplitter. Eine Anti-Biographie, Christoph Hübner & Gabriele Voss, D 2006

The Act of Killing, Anonymous, Christine Cynn, Joshua Oppenheimer, Denmark/UK/Norway 2012

Der lachende Mann – Bekenntnisse eines Mörders, Walter Heynowsky & Gerhard Scheumann, DDR 1966

No quarto do Vanda, Pedro Costa, Portugal 2000

Kolberg, Veit Harlan 1945

W tumane / Im Nebel (В тумане), Sergei Loznitsa, Russland 2012


[1] Der Film wurde im Jahr 1975 auf der Berlinale und bei der Biennale von Venedig präsentiert; in Cannes lief er 1976 und galt als Underground-Klassiker.