Art and Time | Media

Panel: Dokumente und Inszenierungen

RUNDGANG 25. Januar 2014 | Medienklasse | 16.00 – 19.00


TeilnehmerInnen: Thomas Heise, Dominik Kamalzadeh, Ines Kleesattel, Annja Krautgasser, Constanze Ruhm, Axel Stockburger

Moderation: Maren Grimm, Constanze Ruhm


ORT: Semperdepot, Lehargasse 6-8, Wien 1060, 1.Stock

Im Zentrum des Wintersemesters 2013/14 standen zwei Filme, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten: Der italienische Film ANNA von Alberto Grifi und Massimo Sarchielli aus den Jahren 1972 – 1975; sowie der deutsch-französische Film WUNDKANAL des Regisseurs Thomas Harlan aus dem Jahr 1984 (supplementiert von einer Making-Of-Dokumentation der Dreharbeiten zu WUNDKANAL mit dem Titel NOTRE NAZI des amerikanischen Dokumentarfilmemachers Robert Kramer aus dem selben Jahr).

Vor diesem Hintergrund beschäftigen sich die TeilnehmerInnen in ihren unterschiedlichen Beiträgen mit den Fragen des Verhältnisses von Dokumentation und Fiktionalisierung, sowie mit den damit einhergehenden komplizierten Verflechtungen und Verwerfungen von Sujet und Inszenierung, Repräsentation und Dokument, Ausbeutung und Widerstand.

Während ANNA in erster Linie ein mit inszenierten Einschüben durchsetzter, gleichzeitig dem cinéma verité verpflichteter Dokumentarfilm über ein obdachloses, schwangeres junges Mädchen mit einem Drogenproblem ist, inszeniert WUNDKANAL die Geschichte eines alten Nazis namens Albert Filbert, der zu seiner Verantwortung im Hinblick auf die von ihm während der Zeit des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen und zu den Toten von Stammheim verhört wird, und thematisiert so das Verhältnis zwischen deutschen Generationen: jener, die vom Nationalsozialismus und vom 2. Weltkrieg geprägt war, und der darauf folgenden, die im Widerstand gegen das nationalsozialistischen Erbe den bewaffneten Kampf wählte und in den Untergrund ging, um der Gewalttätigkeit der Geschichte terroristische Gewalt entgegen zu setzen: die Rote Armee Fraktion.

Alberto Grifi war ein italienischer Experimentalfilmregisseur, der – neben seinem Hauptwerk ANNA – mit Filmen wie La verifica incerta, L’occhio è per così dire l’evoluzione biologica di una lagrima/Autoritratto Auschwitz (1965-68/2007) und anderen essayistischen Dokumenten seinen internationalen Ruf als politisch engagierter Filmemacher begründet hat; während unter den Deutschen dieser Generation (geboren Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre) wohl kaum jemand anderer geeigneter gewesen ist, das von Schweigen, Verdrängung und Hass geprägte Generationsverhältnis der Nachkriegszeit zu thematisieren: Thomas Harlan, selbst Kind des von den Nazis hochgeschätzten Regisseurs Veit Harlan, dessen berüchtigtster Film wohl die von den Nationalsozialisten gefeierte Propagandaproduktion Jud Süss (1940) war. Vor diesem Hintergrund ist WUNDKANAL nicht zuletzt als Abrechnung Thomas Harlans mit seinem Vater zu verstehen, zu dem er zeitlebens ein zutiefst ambivalentes Verhältnis hatte.

Was diese beiden zeitgeschichtlich, stilistisch und auch politisch so unterschiedlichen Filme dennoch miteinander verbindet, ist das zentrale Thema der Frage nach dem Wesen des Dokumentarischen schlechthin. Auf welche Weise nähert man sich seinem Gegenstand? Wie kann die Wirklichkeit dokumentiert werden; und verwandelt sie sich im Akt des Dokumentierens nicht wieder in Fiktion? Ist die Fiktion am Ende, mit Jean Rouch gedacht, der Realität näher als der ungebrochene, scheinbar bloß dokumentieren-wollende Gestus des cinéma vèrité? Oder können wir nur durch die Beschäftigung mit der Wirklichkeit auf etwas stoßen, das zuvor in unserer Vorstellung noch nicht enthalten war? Insofern als beide Filme auf unterschiedliche Weisen das Terrain zwischen Dokumentation und filmischer Inszenierung ausloten, erschaffen sie auf jeweils eigene Weise inszenierte Realität, beziehungsweise eine Inszenierung, deren Herstellung anschaulich wird, und innerhalb deren Struktur die Ab-Bilder eines jungen Mädchens und eines alten Mannes prismatisch gebrochen und so auf das Äußerste geschärft erscheinen. (C.R.)

ABLAUF

16.00 Constanze Ruhm / Begrüssung, Vorstellung der TeilnehmerInnen

16.15 Keynote

Ines Kleesattel, Dokumentarische Wahrheitspolitik und die Waffen der Fiktion

„Das Reale ist immer Gegenstand der Fiktion“, erklärt Jacques Rancière und positioniert sich klar gegen dokumentarische Authentizitätsbehauptungen à la Guido Knopp. Rancière stimmt darin mit philosophischen Konstruktivismen ebenso überein wie mit einem Medialitätsbewusstsein, das bereits die Anfänge von fotografischer und filmischer Dokumentation begleitete und mit unterhaltsamen Mockumentarys längst im Mainstreamkino angekommen ist. Zugleich geht Rancière jedoch darüber hinaus, bloß demystifizierend festzustellen, dass Realität sich als Konstruktion zeigt. Dass philosophische, historische und dokumentarische Wahrheiten stets „Fiktionen“ (d.h. geformt und hergestellt) sind, heißt für ihn keineswegs, „dass sie null und nichtig sind, sondern dass sie Waffen in einem Krieg sind; keine Werkzeuge, die es erlauben, ein Gebiet abzuschlachten, sondern Waffen, die dazu dienen, seine stets unsicheren Grenzen festzulegen“. Er verteidigt das normative Konzept eines Dokumentarfilms, der Realität nicht als Evidenz, sondern als umkämpftes Problem darstellt. Auf diese Weise kann Dokumentation Wahrheitsskepsis produktiv verknüpfen mit einer streitbaren Wahrheitsemphase – ohne die emanzipatorisch-kritische Politik auf verlorenem Posten wäre.

Ich werde Ranciéres Begriff der Fiktion als ästhetische wie politische Kategorie vorstellen und zeigen, wie diese im Dokumentarfilm hegemoniale Naturalisierungen stützen oder den Horizont von Bedeutung und Wahrnehmung verschieben kann. Dabei will ich nicht nur Waffen der Fiktion im umkämpften Feld von Wahrheits- und Geschichtspolitik herausarbeiten, sondern auch die Dringlichkeit eines Dokumentarischen betonen, das seine Fiktionen gerade dort auf Wahrheit verpflichtet, wo diese zu verschwinden droht. (I.K.)

17.00 Axel Stockburger, Einige Überlegungen zur Praxis des “Speculative Staging” in Aernout Mik’s Installation “Speaking in Tongues”

Im Zusammenhang mit seiner Videoinstallation “Speaking in Tongues”, die im Rahmen des Global Prayers Projektes im Berliner Haus der Kulturen zu sehen ist, verwendet Aernaut Mik den Begriff “Speculative Staging” um auf den Status seiner “fiktionalen” Videoarbeiten in Bezug zum dokumentarischen Material das einen wesentlichen Teil seiner Installation ausmacht zu klären. Diser Begriff und die damit verbundene Praxis scheint mir vor allem in Hinblick auf die Bedeutung des Performativen in Spannungsfeld von Fiktion und Dokumentation einige relevante Fragen aufzuwerfen. Unter anderem wird das Analyse des dokumentarischen Materials; in diesem Fall Aufnahmen von verschiedenen neuchristlichen Kongregationen (pentecostal churches) in Brasilien und Nigeria zum Ausgangspunkt für eine tiefgreifende Analyse der quasi-religiösen Mitarbeitermotivations und medialen Repräsentationsformen gegenwärtiger globaler Firmen. Dabei taucht auch die Frage auf in welcher Weise mediale Repräsentationsformen in ihrem Kern performative Aufgaben haben und damit eine spezifische, ihnen angemessene Form der Dokumentation verlangen. (A.S.)

17.15 Dominik Kamalzadeh zu “Der Letzte der Ungerechten” und “The Act of Killing”

Claude Lanzmanns “Der Letzte der Ungerechten” über den Rabbiner Benjamin Murmelstein und Joshua Oppenheimers “The Act of Killing”, der erste Film, der sich mit den Säuberungsaktionen in Indonesien unter Suharto befasst, waren zwei akklamierte, gewichtige Dokumentarfilme des letzten Jahres. In beiden, in vieler Hinsicht unterschiedlichen Arbeiten geht es um die Auseinandersetzung mit zeithistorischen Ereignissen, die sich in der offiziellen Geschichtsschreibung als besonders problematische Felder erwiesen haben und die in der Gedächtnispolitik durchaus umkämpfte Positionen nach sich zogen. Es braucht ungewöhnliche, “atypische” Verfahrensweisen vonseiten der Filmemacher, um diese Geschichte(n) zu öffnen und zu veranschaulichen – einen Akt der Sichtbarmachung, bei dem sich auch Fragen nach der dokumentarischen Ethik stellen. Einige der ästhetischen Erwägungen dieser Filme sowie ihre Implikationen sollen in dem kurzen Vortag skizziert werden. (D.K.)

17.30 Annja Krautgasser, Das Remake als doku-fiktionales Stilmittel

Basierend auf einer 2011 enstandenen Arbeit mit dem Titel Remake Romanzo Criminale, in der Jugendliche eines italienischen Roma-Camps selbstiniziiert einzelne Episoden des Mafiafilms Romanzo Criminale (Michele Placido, 2005), basierend auf dem gleichnamigen Dokufiktions-Roman des italienischen Richters Giancarlo De Cataldo (2002) nachstellen, möchte ich sowohl das Dilemma migrantischer Täterzuschreibungen thematisieren, als auch die filmische Praxis der Inszenierung – dem Remake, Reenactment – aufzeigen.

In Remake Romanze Criminale ahmen die Jugendlichen akribisch, aber auch sehr spielerisch bis kindlich, ihre Idole aus dem Gangster-Milieu nach. Gleichzeitig kommen die selbstgewählten Rollenzuschreibungen den gesellschaftlichen Stereotypen, mit denen sie als Roma immer wieder konfrontiert werden, äusserst nahe.

Gewalt als Mittel zur Macht erscheint für sie attraktiv, vermittelt aber auch die Ausweglosigkeit ihrer gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Zugeschriebenheit. Im Spiel der Jugendlichen bildet sich damit die ganze Tragweite der gefährlichen Überschneidung zwischen Realität und Fiktion, zwischen möglichen Wirklichkeiten und Wünschen in der Lebenswelt junger Roma im gegenwärtigen Italien, ab. (A.K.)

17:45 Thomas Heise

denkt nach über die Entdeckung der Welt außerhalb unserer Vorstellung, die praktische Arbeit damit, den Unterschied zwischen Dasein und Darstellung, und das Verschwinden als Gegenstand. (T.H.)

18.00 Constanze Ruhm, REPLAY: ANNA

REPLAY: Anna ist Teil einer Serie mehrerer Kurzfilme (in Produktion) unter dem gemeinsamen Titel INVISIBLE PRODUCERS, die sich mit dem Thema der Projektion im film-technischen wie auch im psychoanalytischen Sinn auseinander setzen. Im Zentrum von REPLAY: ANNA steht der bereits erwähnte Film ANNA von Grifi/Sarchielli (Italien 1972 – 74), der einerseits dem cinema verité verpflichtet ist, andererseits eine Reihe fiktionalisierender Elemente beinhaltet (in Form von Re-Inszenierungen, Wiederholungen, Zwischentiteln etc.). Am Ende steht der (behauptete) Tod des Mädchens Anna. Mein Beitrag nimmt diesen (unbestätigten) Tod der Figur, der vielleicht einfach bloß ein Verschwinden war, zum Anlass, das Verhältnis von Dokumentation und Fiktion zu untersuchen.

„ANNA ist ein Video-Band, das 1972 – 73 mit einer AKAI – Apparatur im Viertelzollformat aufgenommen wurde und das Alberto Grifi 1975 mit einem Apparat seiner Erfindung, dem Vidigrafo, auf 16 mm-Film übertrug. ANNA existiert in drei Versionen: einer langen (11 Stunden) auf 1/4-Zoll Videoband und einer kürzeren (4 1/2 Stunden) auf 1/2 Zoll-Videoband. Die dritte Version ist die 16 mm-Filmversion (3 1/2 Stunden). Der Film entstand in Zusammenarbeit von Alberto Grifi mit Massimo Sarchielli, einem Schauspieler, der eine wichtige Rolle als Vermittler zwischen der Kamera und der ,Heldin‘ spielt. Er zeigt die reale Situation Annas, eines 16 Jahre alten drogenabhängigen Mädchens, das schwanger ist, Massimo Sarchielli auf der Piazza Navona kennenlernt und von ihm zu Hause aufgenommen wird. Zur gleichen Zeit filmten die Regisseure das, was sich in Rom im Milieu der Randgruppen ereignete.“ Adriano Aprà, L’Art Vivant, Paris, Februar 1975. (C.R.)

Anschliessend Diskussion